Creativity, Improvisation, and Music Literacy

von Christophe Starck

Vorgeschichte:
Mein Grossvater, Walter Starck, war Lehrer und Organist in Strassburg. Um 1930 begann er mit Kindern ab ca. 3 Jahren zu musizieren. Seine Devise war „Music d’abord!“: Zuerst die Musik!
Zu dieser Zeit war es in Frankreich noch üblich, dass, wenn ein Kind ein Instrument lernen wollte, es zuerst ein Jahr lang Theorie lernen musste, bevor es in die Nähe des gewünschten Instruments kam.
„Music d’abord!“ bedeutet, dass es in erster Linie um die Musik als Erfahrung geht, nicht um Theorie. Es war für ihn wichtig, dass Kinder möglichst in frühen Jahren in die Musik eingeführt werden, weil er intuitiv verstand, dass Sprache und Musik lernen zusammenhängen. Beides sind organisierte Geräusche. Wenn also ein Kind Musik so lernt, wie es seine Sprache lernt, wird Musik zu etwas wie einer Muttersprache: Eine vollkommen natürliche Art und Weise sich auszudrücken.
Von Anfang an arbeitete er in Gruppen, die altersdurchmischt waren, so wie es damals auch in der Schulstube üblich war.
Er sang mit den Kindern, machte Bewegungs- und Rhythmusspiele. Wenn die Schüler die Lieder verinnerlicht hatten, wurden sie nach Gehör, ohne Noten auf die Saiteninstrumente übertragen. (Er unterrichtete Geige, Bratsche, Violoncello, Kontrabass und hatte ein Kinderstreichorchester. Alle Schüler sangen auch in seinem Kinderchor mit.)

Vieles von dem wird Leuten, die mit MLT vertraut sind bekannt vorkommen. Ich glaube, dass Edwin Gordon und mein Grossvater von einer sehr ähnlichen Wahrnehmung und Absicht heraus ihre Musikpädagogik entwickelten. Nur ging Gordon in seinen Forschungen viel weiter und auch systematischer vor. Er konnte sich wahrscheinlich auch schon auf mehr wissenschaftliche Erkenntnisse stützen, während sich die Vorgehensweise meines Grossvaters vor allem aus intuitivem Verständnis und seiner Erfahrung als Pädagoge heraus bildete. (Ich vermute zwar, dass das auch für Gordon gilt, und dass er dann seine Erkenntnisse wissenschaftlich untermauert hat.)

Vor einigen Jahren begann meine Frau Marijke, Kurse für MLT zu besuchen und mir davon zu erzählen. Mir wurde bald klar, dass da eine Verwandtschaft bestand zu dem was ich von meinem Grossvater gelernt hatte.
Ich hatte zunehmend den Eindruck mit etwas in Berührung zu kommen, das meinen Wurzeln entspricht, musikalisch aber weit darüber hinaus führen könnte.

Im Frühling 2017 wollte ich herausfinden was da dahinter steckt, und ging mit Marijke an das Seminar von Marilyn Lowe. Das überstieg meine Erwartungen und ich hatte den Eindruck, auf etwas ganz besonderes gestossen zu sein. Obwohl vieles ganz neu war für mich, war das Gelernte so praxisnah, dass ich einiges schon ein paar Tage später in meinen Geigenunterricht einfliessen lassen konnte.
Um mehr zu erfahren und mich eventuell weiter zu vertiefen ging ich mit an das Seminar von Christopher Azzara. Wie schon Marilyn Lowes’ Seminar war auch dieses inspirierend, motivierend und aktivierend.

Inspirierend,
weil Christopher Azzara mit seiner sprudelnden Energie mich gleich mitgerissen hat.
Weil alles was er erklärt spürbar aus einem unglaublichen Fundus an Wissen und Erfahrung stammt, und dabei so auf den Punkt gebracht wird, dass es mir sofort einleuchtete und klar war. Und dann wurde jeweils mit einer Fülle von Beispielen die Möglichkeiten des Erklärten musikalisch und pädagogisch ausgelotet, und in der Gruppe praktisch erprobt.
Anhand seiner auf dem Klavier vorgetragenen Beispiele wurde deutlich, dass er nicht nur „weiss“, sondern ein super Musiker ist, dessen Spiel tief berühren kann.
Sein grosses Verständnis musikalischer Zusammenhänge wurde hörbar, wenn er Stücke in verschiedenen Stilen interpretierte und variierte.

Dies fand ich wirklich motivierend,
weil es mir eine musikalische Freiheit und ein Verständnis musikalischer Zusammenhänge demonstrierte, wovon ich nicht mal geträumt hatte, und die das Musizieren auf ein Level heben konnten, auf dem es eigentlich erst musizieren genannt werden kann.

Das war aktivierend,
in dem Sinne, dass in mir den Wunsch geweckt wurde: „Das will ich auch!“
Es wird für mich wohl einige Jahre in Anspruch nehmen, diesem Ziel in die Nähe zu kommen, aber der Gedanke löst Freude aus, und das ist eine super Motivation. 🙂